Unbewusstheit



Stell dir vor, du sitzt im Kino und schaust dir einen Film an. Auf der Leinwand spielt sich ein Drama ab. Als Zuschauer lehnst du dich entspannt zurück und fragst dich, wie es dem Hauptdarsteller nur gelingt, sich so mit seiner Rolle zu identifizieren. Im Filmgeschäft sind das Oskar würdige Glanzleistungen. Im wirklichen Leben ist das nichts Besonderes. Wir tun es jeden Tag. Nimm einmal an, dieser Hauptdarsteller könnte sich aus dem Filmgeschehen herausnehmen, aus der Leinwand heraustreten und sich zu dir in den Kinosaal setzen. Er könnte sich nun das Drama anschauen, in dem er spielt, und gleichzeitig Beobachter seiner selbst sein. Als Beobachter - jetzt, da er Distanz zum Geschehen gewonnen hat – würde er erkennen, wie sehr ihn seine Rolle gefangen hält und er sich mit ihr identifiziert. Natürlich fällt ihm das erst jetzt als Zuschauer auf, weil er nicht die Person im Film ist. Aber während er im Film mitspielt, weiss er das nicht. Die meisten Menschen befinden sich in irgendeinem Film und halten unbewusst an ihren selbst definierten und konditionierten Rollen fest. Wenn man sie fragt, wer sie sind, dann erzählen sie ihre Lebensgeschichte und verwechseln ihre Lebenssituation mit dem Leben selbst.


 

Sobald du einen gewissen Grad an Bewusstheit erlangt hast, lernst du zu unterscheiden, wann du der Zuschauer bist oder der Darsteller im Film. Du kannst sogar lernen, die Leinwand, den darauf gezeigten Film und die Beobachterperspektive gleichzeitig wahrzunehmen. Du hältst nicht mehr an Rollen fest, an der Identifikation mit deiner Person. Du kannst entscheiden, wie du dem Jetzt - dem gegenwärtigen Moment - begegnen möchtest, und da das Jetzt untrennbar vom Leben ist, geht es eigentlich darum, welche Beziehung du zum Leben gewinnst. Sagst du Ja zum Jetzt, oder in anderen Worten, wenn du dir die Gegenwärtigkeit zum Freund machen willst, musst du dir über die Hindernisse bewusst werden, die dich davon abhalten wollen. Und das grösste Hindernis ist dein Denken. Warum? 



Dein Denken definiert deine Person. Du wirst feststellen, dass deine Gedanken von der Zeit beherrscht sind. Die meisten Gedanken drehen sich um die Vergangenheit oder die Zukunft und sind in diesem Moment überflüssig. Aus der Vergangenheit beziehst du dein Selbstwertgefühl und deine Identität, und in der Zukunft suchst du nach Erfüllung. Der gegenwärtige Moment wird dabei als Hindernis gesehen oder nur als Mittel zum Zweck eingesetzt, da du immer schon den nächsten Schritt anstrebst und den zukünftigen Augenblick als wichtiger betrachtest, obwohl das in Wirklichkeit nichts weiter als ein Gedanke in deinem Kopf ist. So bist du nie im Jetzt, da du immer damit beschäftigt bist, woanders zu sein. Ungeduld, Enttäuschung und Stress entstehen, ein Alltagsphänomen für viele. Der gegenwärtige Moment wird zum Problem, das erst gelöst werden muss, ehe du zufrieden bist oder gar zu leben beginnst. Das Problem ist nur, solange der gegenwärtige Moment als Hindernis gesehen wird, nehmen die Probleme kein Ende. Dann sagt dir das Jetzt, "wenn du mich als Problem betrachtest, dann werde ich für dich zum Problem. Wenn du in mir ein Hindernis siehst, bin ich ein Hindernis."







Friedrich Nietzsche, der deutsche Philosoph, hat einmal gesagt: "Wenn du lange in einen Abgrund starrst, starrt der Abgrund auch in dich." Diese Metapher macht die Wechselwirkung zwischen Innen- und Aussenwelt deutlich. Vieles, was dir von aussen zu begegnen scheint, ist ein Spiegelbild deiner selbst. Nicht weil du es zufällig anziehst, sondern weil du nur das empfängst, worauf du eingestellt bist. Hilfreich ist deshalb immer die Frage, wie du denn zum gegenwärtigen Moment stehst. Fühlst du inneren Widerstand und siehst das Jetzt als Hindernis? Bist du so mit dem Tun beschäftigt, dass du das Sein gar nicht wahrnimmst? Ist der Moment nur ein Mittel zum Zweck, um irgendwo anders hinzukommen? Je mehr du dir diese Fragen stellst, desto achtsamer und aufmerksamer begegnest du dem Leben, desto mehr trittst du aus der Unbewusstheit heraus. Wenn es dir gelingt, dem Moment so zu begegnen, als hättest du ihn selbst für dich ausgesucht, egal was geschieht, dann gibst du dich dem Leben hin. Das hat nichts mit Aufgeben zu tun. Es geht nur darum, den Moment so anzunehmen, wie er ist. Aus dieser Akzeptanz heraus kannst du bewusst handeln. Dieses Annehmen ist keine Entscheidung des Verstandes, es ist ein innerer Seinszustand. Wie Thoreau schon vor anderthalb Jahrhunderten festgestellt hat: Auf die Beschaffenheit des Tages selbst einzuwirken, das ist die höchste aller Künste.


 

Eckhart Tolle schreibt in The Power of Now, dass der grösste Teil des menschlichen Leids unnötig ist. Solange du von deinen unbeobachteten Gedanken beherrscht wirst, erschaffst du dein Leid selbst. Das Leid ist immer eine Form von Nichtakzeptanz, von unbewusstem Widerstand gegen das, was ist. Auf der gedanklichen Ebene zeigt es sich oft in der Neigung, über Situationen oder andere Menschen zu urteilen, dich in irgendeiner Weise zu beschweren, im emotionalen Bereich erfährst du oft eine Form von Negativität, die sich sogar körperlich manifestieren kann. Wie intensiv dieser Schmerz ist, hängt vom Grad deines Widerstands gegen das Jetzt ab, und dieser wiederum davon, wie stark du dich mit deinem Denken identifizierst, sagt Tolle. Der Verstand strebt immer danach, das Jetzt zu leugnen und aus der Gegenwärtigkeit zu fliehen, da die Gedanken an Zeit gebunden sind. Je mehr du dich also mit deinen Gedanken identifizierst, desto mehr leidest du, desto unbewusster lebst du. Je mehr du das Jetzt akzeptierst und wertschätzt, desto freier bist du von Leid und Schmerz – und frei von deinen Gedanken.