Reflektionen


Lesen und die Stille


Lesen ist eine wunderbare Sache. Ich lese selbst sehr gerne und schreibe auch über das Gelesene auf meiner neuen Webseite bookstories.ch. Wir vertiefen uns in ein Buch, in eine Geschichte, Bilder und Eindrücke entstehen in uns, etwas durch Worte Transportiertes nimmt in unseren Gedanken Gestalt an. Lesen ist eine sehr persönliche, stille Beschäftigung. Lesen geschieht in der Stille. Lesen und Stille sind zwei Begriffe, die perfekt zusammenpassen, harmonieren, die sich eigentlich gegenseitig bedingen. Wenn ich mich mit einem Buch zurückziehe, ist es meist sehr still um mich herum. In lärmigem Umfeld macht Lesen keinen Spass, Lärm lenkt ab, ich erreiche nicht die Tiefe, die sich bei äusserer Ruhe für gewöhnlich einstellt.


Und doch bedeutet äussere Ruhe nicht gleichzeitig innere Stille. Denn Lesen ist eine Beschäftigung, die unsere Gedanken sehr aktiv werden lässt. Lesen ist Kopfarbeit, die gedankliche Aktivität beginnt von ganz allein. Innere Stille tritt jedoch erst ein, wenn wir aus unseren Gedanken austreten, wenn es auch in unserem Kopf still wird, wenn wir das Denken abstellen können. Und das funktioniert beim Lesen nicht. Lesen ist Kopfkino, das innere Vorgänge in uns auslöst. Niemand würde mir widersprechen, wenn ich sage, dass unsere Gedanken auch Emotionen auslösen, selbst körperliche Empfindungen. Sobald ich mich gedanklich in eine Geschichte begebe, beginnt es in mir zu arbeiten. 


Deshalb achte ich darauf, dass ich mich auch beim Lesen in meinen Gedanken nicht verliere, dass sie nicht Überhand gewinnen. Das erreiche ich, indem ich während des Lesens immer wieder kleine Pausen einlege, meist zwischen zwei Abschnitten oder nach einem Kapitel, wo ich das Buch niederlege und für ein paar Sekunden all die Bilder in mir wegziehen lasse und in die Stille eintauche. Mich mit ihr verbinde. Das geht nur, ohne dabei etwas zu denken. Und das Schöne daran ist, dass ich das Gelesene auf diese Weise viel bewusster und intensiver wahrnehmen und verinnerlichen kann.


März 2023





Reisende


Kürzlich schauten wir uns den Science-Fiction-Film 'Passengers' aus dem Jahr 2016 an. Kurz zur Handlung: Das Raumschiff Avalon ist mit halber Lichtgeschwindigkeit auf dem Weg zu einer neuen Welt namens Homestead II. An Bord befinden sich fünftausend Menschen - im Hyperschlaf, da die Reise 120 Jahre dauert. Aufgrund eines Systemausfalls, verursacht durch eine Kollision mit einem Asteroidenbrocken, erleidet eine der Schlafkammern einen Defekt und ein Reisender erwacht neunzig Jahre zu früh aus seinem Schlaf. Ein Jahr lang verbringt er "allein" auf dem Raumschiff, ehe ihn die Einsamkeit zu einer gewissenlosen Tat zwingt. Lediglich ein Mensch-Roboter-Barkeeper, der die ganze Zeit damit beschäftigt ist, Gläser zu polieren, weil er eben so programmiert ist, leistet ihm abends an der Bar Gesellschaft.


Der Grund, weshalb ich ihn hier zum Anlass eines kleinen Beitrags nehme, ist eine Aussage des Mensch-Roboter-Barkeepers, die dem einsamen Reisenden in seiner verzweifelten Lage Mut machen soll, und die man durchaus als Kernaussage des Films verstehen kann: "Du bist nicht da, wo du sein möchtest", sagt er zu dem Leidenden in einem der zahlreichen Gespräche abends an der Bar. "Du hast das Gefühl, du müsstest woanders sein. Nehmen wir an, du müsstest nur mit den Fingern schnippen und wärst überall, wo du sein möchtest ... ich wette, du hättest immer noch dieses Gefühl, fehl am Platz zu sein. Denk nicht so verbissen daran, wo du lieber wärst. Mach das Beste aus dem, wo du gerade bist." 


Den meisten Menschen geht es so. Die meisten Menschen entfliehen dem Jetzt, da sie sich in Gedanken schon mit dem nächsten Moment beschäftigen. Die meisten Menschen befinden sich, wie der Hauptdarsteller in 'Passengers', auf irgendeiner Reise mit dem Streben nach Erfüllung, nach einem besseren Moment. Täglich beschweren sie sich gedanklich oder in Selbstgesprächen über das, was gerade ist. Am liebsten wären sie woanders und denken über Umstände nach, die besser sein könnten als die, die sie gerade vorfinden. Wenn es regnet, sollte die Sonne scheinen, wenn die Sonne scheint, hat es schon lange nicht mehr geregnet. Unbehagen, Unzufriedenheit sind die Folge, eine Suche nach äusserer Befriedigung beginnt. Die meisten Menschen lehnen den gegenwärtigen Moment innerlich ab, was ihnen nicht bewusst ist. "Denk nicht so verbissen daran, wo du lieber wärst. Mach das Beste aus dem, wo du gerade bist." Das funktioniert nicht, wenn wir im Widerstand sind gegen das, was gerade ist. Das geht nur, wenn wir das Jetzt annehmen. Wenn wir Ja sagen zu dem, was ist. Dann können wir auch das Beste aus dem machen, was gerade ist. Hingabe ist Voraussetzung für Veränderung.


August 2021




Die Bambusflöte


Stell dir vor, du bist eine Bambusflöte. Die Luft, die dich durchströmt und durch dich eine Melodie spielt, ist die Lebenskraft, der Atem Christi, Bewusstsein, Stille, Chi, Prana, der Geist Gottes, die Buddha-Natur, oder wie wir das eine Leben auch immer benennen wollen. Es ist das Sein. Wenn du bestimmte Löcher in der Flöte zuhältst oder offenlässt, entstehen Töne, die in der Komposition eine Melodie ergeben. Es ist das Tun. Aber ohne den Atem, der in die Flöte bläst, kannst du keine Melodie spielen. 


Stell dir vor, dass jeder deiner Gedanken und Emotionen, obwohl du sie nicht als Form erkennen kannst, doch als Formen existieren, als eigenständige Energiewesen in einem sehr feinstofflichen Bereich. Auf der Stufe der Unbewusstheit identifizierst du dich mit deinen Gedanken und Emotionen und formst aus ihnen dein Selbstbild und deine Persönlichkeit. Weil du glaubst, dass sie Teil von dir sind, hältst du an ihnen fest und sie werden immer dichter. Stell dir vor, dass jeder Gedanke und jede Emotion, die dich besetzen, eine kleine Bohne ist, die du in deine Bambusflöte steckst. Mit jeder Bohne wird die Flöte voller und ist irgendwann so voll, dass sie keine Töne mehr erzeugen kann und der durch sie hindurchströmende Atem nur noch auf Widerstand stösst.


Stell dir vor, du bist diese mit Bohnen gefüllte Bambusflöte und du möchtest eine Melodie spielen. Du spürst die Schwere dieser Bohnen, ihre Last, ihren Widerstand, du spürst, wie sie den Atem des Lebens blockieren. Und du erkennst in diesem Moment, wer du wirklich bist. Nicht die zahlreichen Bohnen in der Flöte, sondern der Atem des Lebens, der dich durchströmt. Und du beginnst, eine Bohne nach der anderen wieder aus der Flöte herauszunehmen und spürst, wie die Flöte leichter wird, leichter und durchlässiger, bis sie schliesslich ganz leer ist und die Melodie des Lebens spielen kann.


Mai 2021




Unendliche Weiten


Der Blick in einen sternenklaren Nachthimmel ist etwas Wundervolles. Ich erinnere mich an den Sommer, als ich in einer solchen Nacht die Sterne bewunderte. Dabei fiel mir ein grosser leuchtender Punkt auf. Es musste ein Planet sein, weil sein Licht nicht funkelte, wie das bei Sternen der Fall ist. Die Planeten unseres Sonnensystems reflektieren wie der Mond das Licht unserer eigenen Sonne - Sterne sind andere Sonnen bzw. Lichtquellen, daher das Funkeln aus gewaltigen Entfernungen. Da das Licht in einer Sekunde dreihunderttausend Kilometer zurücklegt, benötigt es bei Quellen in weiter Entfernung mehrere Jahre, bis es auf unser Auge trifft, was theoretisch bedeuten kann, dass die beobachteten Objekte zum Zeitpunkt der Beobachtung gar nicht mehr existieren.


Zuerst dachte ich, dass es sich bei diesem leuchtenden Punkt um die Venus handelt, aber meine Skyguide-App zeigte mir den Jupiter an. Allein schon die Vorstellung, mit blossem Auge den Jupiter sehen zu können, finde ich faszinierend, geschweige denn den Saturn - das war der kleine helle Punkt links des Jupiters, dessen Licht ebenfalls konstant schien. Ich holte das Fernglas, weil ich mich erinnerte, dass die Ringe des Saturns durch das blosse Fernglas zu erkennen sind, was tatsächlich so war. Das ist eindrücklich, wenn wir bedenken, dass der Saturn in fast 1,3 Millionen Kilometer Entfernung von der Erde die Sonne umkreist. Er ist jedoch auch fast zehnmal grösser wie unser Heimatplanet, was wohl erklärt, dass er mit dem Auge noch zu sehen ist.



Dass Jupiter und Saturn so nahe zusammenstanden, sich in einer sogenannten Konjunktion befanden, kommt aufgrund ihrer langsamen Umlaufgeschwindigkeiten um die Sonne nicht oft vor. Jupiter benötigt für einen Sonnenumlauf fast zwölf Jahre, Saturn steht erst nach neunundzwanzig Jahren wieder am selben Ort. Was das Planetentreffen im Zeichen Steinbock letztes Jahr aber noch seltener machte, war Pluto, der nicht erkennbare, weil äusserste Planet unseres Sonnensystems, der eigentlich schon seit zehn Jahren im Sternbild des Steinbock steht, da er für einen ganzen Sonnenumlauf 248 Jahre braucht. Und so kam es letztes Jahr zu einer kleinen astronomischen und auch astrologischen Sensation am Himmelszelt;



der äusserst seltenen Konstellation dieser drei langsam laufenden Planeten, die am Tag der Wintersonnenwende, am 21. Dezember, am nächsten zusammenstanden. Ich betrachtete also diese beiden grössten Planeten unseres Sonnensystems im Südosten des nördlichen Nachthimmels durch mein Fernglas, und weil ich das Handy mit der Skyguide-App schon griffbereit hatte, machte ich noch eine andere, faszinierende Entdeckung: den sehr hellen, von der Erde aber sehr weit entfernten Stern mit dem Namen Arktur. Wenn wir eine Erbse neben einen Wasserball legen, dann haben wir ungefähr das Grössenverhältnis zwischen unserer Sonne und der Erde. Arktur hingegen ist fünfundzwanzigmal grösser als unsere Sonne, was bedeutet, dass nun unsere Sonne die Erbse ist und Arktur der Wasserball. Arkturs Alter wird auf fünf bis acht Milliarden Jahre geschätzt, er gilt als ältestes Objekt am Nachthimmel, das mit blossem Auge erkennbar ist. Als hellster Stern am Nordhimmel besitzt er die hundertzehnfache Strahlkraft unserer Sonne, und sein Licht ist über sechsunddreissig Jahre unterwegs, bis es hier auf der Erde als Licht erkannt wird. Arktur befindet sich immer noch in unserer Galaxie, der Milchstrasse, die bis zu 300 Milliarden Sterne hat.

 

Unser eigenes Sonnensystem, das sich ebenfalls in der Milchstrasse befindet, obwohl wir diese als hellen Streifen am Nachthimmel erkennen können, liegt ungefähr 26'000 Lichtjahre vom Zentrum unserer Galaxie entfernt. Wenn wir von einem zum anderen Ende der Milchstrasse reisen wollten, wären wir mit einer Geschwindigkeit von 330'000 Kilometern pro Sekunde 200'000 Jahre unterwegs, sofern uns das im Zentrum gelegene schwarze Loch Sagittarius A nicht längst verschluckt hat. Unsere Milchstrasse ist eine unter Billionen Galaxien im Universum. Zwischen den Sternen ist leerer Raum, ebenso zwischen den Galaxien. Kann unser Verstand das noch begreifen? Als winzige Lebensform unter Billiarden anderer Formen ist der Mensch nicht mehr als Sternenstaub. Und solange wir so denken, bleibt das auch so. Erst wenn wir erkannt haben, dass wir uns nicht irgendwo in den unendlichen Weiten des Universums befinden, sondern das Universum in uns selbst entsteht, dass jede Lebensform auch das Ganze in sich trägt, werden Dimensionen wie Zeit und Raum bedeutungslos.



März 2021




Gedanken über das Jetzt


Wenn wir für das Jetzt einen anderen Begriff finden müssten, träfe Gegenwart wohl am ehesten zu. Der gegenwärtige Moment. Doch wo beginnt die Gegenwart und wo hört sie auf? Wie lange dauert der gegenwärtige Moment?  Eine Sekunde, zwei Sekunden, drei Sekunden? Wieviel oder was darf im Jetzt geschehen, dass es noch als Jetzt empfunden wird? Eckhart Tolle sagt: "Das Jetzt ist nicht das, was passiert. Das Jetzt ist der Raum, in dem es passiert. Es verändert sich nie." Vielleicht könnten wir sagen, im gegenwärtigen Moment treffen Vergangenheit und Zukunft aufeinander. Oder besser, im gegenwärtigen Moment entstehen Vergangenheit und Zukunft - sofern wir über das, was vergangen ist oder noch kommen wird, nachzudenken beginnen. Ausser im Kopf existieren nämlich weder Vergangenheit noch Zukunft. An das bereits Geschehene können wir uns bestenfalls erinnern und über das noch nicht Eingetretene auch nur Mutmassungen anstellen.


Vergangenheit und Zukunft sind gedankliche Konstrukte. Zeitdimensionen, die nur in Gedanken existieren und uns vom Jetzt, dem gegenwärtigen Moment, wegtragen. Es ist interessant, das ältere Menschen sich gedanklich oft in der Vergangenheit aufhalten, weil ihre Zeit allmählich abläuft, und junge Menschen sich mit der Zukunft beschäftigen, da ja noch viel Zeit übrig ist. Beide bewegen sich irgendwo in einer fiktiven Zeitdimension und nicht im Jetzt.


"Carpe Diem" kommt aus dem Lateinischen und bedeutet «Gelobe den Tag». Oder umgangssprachlich "geniesse den Moment". Damit sprechen wir meist von Dingen, die in diesem Moment geschehen. Dem, was wir gerade tun oder erfahren, sollen wir unsere ganze Aufmerksamkeit schenken. Der gegenwärtige Moment, das Jetzt, erfährt mit diesem Sprichwort jedoch bereits eine zeitliche Ausdehnung, denn es bezieht sich auf den Inhalt des Moments und nicht auf den Moment selbst. Wir kennen die Redewendung Jetzt oder Nie und meinen damit, etwas jetzt zu erledigen und es nicht auf die lange Bank zu schieben. Bei genauer Betrachtung dieser Worte erkennen wir aber auch deren tiefere Bedeutung: Jetzt oder Nie - es gibt nur das Jetzt und keinen anderen Moment. Selbst Vergangenheit und Zukunft "geschehen" im Jetzt. Wenn wir das Jetzt auf der horizontalen Zeitachse darstellen, so müssten wir einen Punkt malen. Wenn wir ein Blatt Papier mit einem scharfen Schwert in zwei Hälften schneiden, fällt die Vergangenheit zur einen Seite und die Zukunft zur anderen. Wir sehen, dass das Jetzt keine Form hat, bestenfalls einen messerscharfen Schnitt in die Tiefe. Im Jetzt entfaltet sich das Leben, weil das Jetzt das Leben selbst ist. Es ist die Stille, der stille Raum, in dem alles entsteht und wieder vergeht. Das Jetzt erlaubt den Dingen, zu sein.


August 2020




Die Last der Vergangenheit




Eine Geschichte, die ich gerne erzähle, wenn es darum geht, die Unwilligkeit des Verstandes, sich gedanklich von der Last der Vergangenheit zu befreien, zu veranschaulichen, ist die Geschichte der beiden Zen-Mönche Tanzan und Ekido. Die Heimkehr einer Pilgerreise führte sie einst an das Ufer eines Flusses, den es zu überqueren galt. Dabei entdeckten sie eine junge Frau, die auch auf die andere Seite wollte. Und da der Fluss sehr viel Wasser trug, ging Tanzan ohne zu zögern auf die junge Frau zu, hob sie in seine Arme und trug sie durch das fliessende Wasser ans andere Ufer. Danach gingen die beiden Mönche schweigend weiter. Fünf Stunden später, als sie sich ihrem Kloster näherten, konnte Ekido sich nicht länger beherrschen, und er brach die Stille. Wie konntest du diese junge Frau nur über die Strasse tragen, sagte er aufgebracht, uns Mönchen ist es doch untersagt, Frauen zu berühren! Ich habe die Frau vor Stunden abgesetzt, erwiderte Tanzan. Trägst du sie immer noch?


Juli 2020




Erleuchtung


Eine wunderschöne kurze Zen-Geschichte zeigt auf, wie aussichtslos das willentliche Streben nach Erleuchtung ist: Ein junger Schüler suchte einen Zen-Meister auf. "Meister, wie lange wird es dauern, bis ich Befreiung erlangt habe?" "Vielleicht zehn Jahre", entgegnete der Meister. "Und wenn ich mich besonders anstrenge, wie lange dauert es dann?", fragte der Schüler. "In dem Fall kann es zwanzig Jahre dauern", erwiderte der Meister. "Ich nehme aber wirklich jede Härte auf mich. Ich will so schnell wie möglich ans Ziel gelangen", sagte der junge Schüler. "Dann", erwiderte der Meister, "kann es bis zu vierzig Jahre dauern."


Juni 2020





Laotse's Nichtsein


"Der Sinn, der sich aussprechen lässt, ist nicht der ewige Sinn. Der Name, der sich nennen lässt, ist nicht der ewige Name. Nichtsein nenne ich den Anfang von Himmel und Erde. Sein nenne ich die Mutter der Einzelwesen. Darum führt die Richtung auf das Nichtsein zum Schauen des wunderbaren Wesens, die Richtung auf das Sein zum Schauen der räumlichen Begrenztheiten. Beides ist eins dem Ursprung nach und nur verschieden durch den Namen. In seiner Einheit heisst es das Geheimnis. Des Geheimnisses noch tieferes Geheimnis ist das Tor, durch das alle Wunder hervortreten."


Laotse, aus Tao Te King

 



Das, was Laotse hier im ersten Vers aus seinem Tao te King mit Nichtsein beschreibt, nenne ich die Stille, das Unmanifeste. Aus der Stille entsteht alles Tun und Sein. Aus dem Unmanifesten manifestiert sich das Universum, deshalb nennt Laotse das Nichtsein auch den Anfang von Himmel und Erde, und das Sein, das in seiner Manifestation bereits räumliche Begrenztheit erfährt, die Mutter der Einzelwesen. Wenn wir uns wie Laotse hier in die Mitte zwischen Sein und Nichtsein stellen, dann führt uns der Weg in Richtung Nichtsein zum Ursprung zurück – zum Schauen des wunderbaren Wesens, und der Weg in Richtung Sein zur Welt der Formen hin – zum Schauen der räumlichen Begrenztheiten. Selbst das Nichtsein sieht Laotse nicht als das Ursprüngliche, denn es hat ja bereits einen Namen und kann also nicht der ewige Sinn sein, der sich nicht aussprechen lässt. In ihrer Einheit nennt Laotse Nichtsein und Sein das Geheimnis. Je mehr sich unsere Form also in diesem Geheimnis, in dieser Stille, im Unmanifesten auflöst, desto näher kommen wir dem noch tieferen Geheimnis, dem Tor, durch das alle Wunder hervortreten, wie Laotse es beschreibt. Desto näher kommen wir dem Göttlichen, dem ewigen Sinn, der keinen Namen hat.


Juni 2020




Waldspaziergang

Ich erinnere mich an einen Waldspaziergang mit Bekannten letzten Sommer.  Es wurde viel geredet, eigentlich die ganze Zeit. Manchmal liess ich mich etwas zurückfallen, weil ich mit meinem Handy Aufnahmen machen oder mir in aller Ruhe ansehen wollte, was links und rechts des Wegrandes blühte. Obwohl wir alle die frühsommerliche Natur genossen, hatte jener Spaziergang hauptsächlich den Zweck, sich auszutauschen. Viele Menschen reden angeregt auf einem Waldspaziergang. Nutzen den Moment, um ganz woanders zu sein, um sich über geschäftliche Dinge zu unterhalten oder über das, was sie gerade beschäftigt. Und wenn es einmal für einen kurzen Augenblick still wird, dann werden sie von ihren Gedanken weggetragen. Die Vorstellung, schweigend nebeneinander herzugehen und die Stille des Waldes in sich aufzunehmen, ist den meisten Menschen fremd. Es kann ja nicht sein, dass man sich nichts mehr zu sagen hat. Lieber wird über Belangloses geredet, damit man nicht schweigen muss. Oder wenn man schweigt, ist man gedanklich mit sich selbst beschäftigt. Wie häufig geht die Stille doch in unserem Gedankenlärm unter.


Mai 2020