Erwachen



Erwachen im gewöhnlichen Sprachgebrauch bedeutet aufwachen, wach werden. Du erwachst aus dem Schlaf, aus einem Traum, aus der Bewusstlosigkeit, aus einem komatösen Zustand. Du wechselst gewissermassen die Ebene des Bewusstseins und trittst in einen anderen Bewusstseinszustand über. Wenn du vorher geschlafen hast, dann bist du jetzt wach. Im spirituellen Sinn ist das nichts anderes. Nur, dass du hier durch den Prozess des Erwachens aus dem denkenden Verstand, den du als normal erachtest, heraustrittst. Eigentlich erwachst nicht du als Person, sondern das Bewusstsein selbst durch dich. Was ist damit gemeint?



Du kannst nichts dafür tun, um es geschehen zu lassen. Du kannst den Prozess des Erwachens nicht bewusst herbeiführen oder auslösen, du kannst ihn dir auch nicht verdienen. Keine Anstrengung der Welt, keine Folge logischer Schritte würde zum Erwachen führen. Es nützt dir nichts, dir davon einen Begriff zu machen und dich als Vorstellung eines erleuchteten Menschen über andere zu erheben. Es ist nicht an dir, diese Entscheidung zu treffen. Erwachen geschieht einfach irgendwann. Oder es bleibt aus. Erwachen ist ein Bewusstseinswandel. Irgendwann wirst du erkennen, dass dein wahres Wesen viel essenzieller ist als die denkende und fühlende Person, mit der du dich bisher identifiziert hast. Dieses Irgendwann kannst du aber nicht beeinflussen. Alles, was du tun kannst, ist dafür offen zu sein.






In den meisten Fällen ist Erwachen ein allmählicher Prozess. Ein Prozess wachsenden Bewusstseins. Und selbst wenn du ein plötzliches, dramatisches Erwachen erfährst, machst du danach einen Entwicklungsprozess durch, der dich lehrt, das neue Bewusstsein mehr und mehr in deinen Lebensalltag zu integrieren. Dein Wirken und Denken wird niemals mehr dasselbe sein. Während du dein Ichbild vorher aus deinen Gedanken und Gefühlen bezogen hast, so wirst du nach dem Erwachen beginnen, das Bewusstsein hinter dieser personifizierten Identität zu erkennen und zu sein. Vom französischen Philosophen Descartes stammt der berühmte Satz "Ich denke, also bin ich." Descartes ging davon aus, dass das Denken den Menschen ausmacht. Eigentlich hätte er sagen müssen: "Ich erkenne das Denken, aber ich bin nicht meine Gedanken." Diese Erkenntnis schafft Raum. Diese Bewusstheit verbindet dich mit der Stille, aus der alle Formen entstehen und wieder vergehen, mit dem allumfassenden Bewusstsein, das du in deiner Essenz bist.


 

Aus dem Denken heraustreten



Erwachen beginnt mit der Bewusstwerdung des Denkens. Wenn du dich vom zwanghaften Denken befreien willst, musst du dir zuerst bewusst machen, dass du unentwegt denkst. Wahrscheinlich identifizierst du dich automatisch mit deinen Gedanken, weil du nichts anderes kennst. Unbewusst magst du sagen, "die Art, wie ich denke, ist, wer ich bin oder was ich tue", oder, "es ist mein Denken, also bin ich es." Sobald du über etwas nachdenkst, und das tust du andauernd, folgst du diesen Gedanken, und diese Gedanken provozieren wiederum weitere Gedanken. Deshalb ist das repetitive Denken eine Form von Zwang. Dir ist nicht einmal bewusst, dass Bewusstheit und deine Gedanken zweierlei sind, da du der Auffassung bist, deine Gedanken zu sein.


Versuche, dich von deinen Gedanken loszulösen und sie als etwas Fremdes in dir zu erkennen. Sei der Beobachter deiner Gedanken, wie der Schauspieler, der sich in den Kinosaal setzt und sich seinen eigenen Film anschaut. Nehme den Raum wahr, in dem deine Gedanken kommen und auch wieder gehen. Mit diesem Schritt schaffst du Distanz zu deinem Denken. Vielleicht gelingt es dir plötzlich, eine kurze Pause zwischen zwei Gedanken zu entdecken - einen kurzen Augenblick des Nichtdenkens. Im Englischen nennt man gedankliche Leere paradoxerweise mindfulness. In dieser kurzen Pause ist es still in dir. Du stellst fest, dass du in dieser Stille des Nichtdenkens immer noch da bist, also kann deine Ich-Wahrnehmung nicht mit deinem Denken zusammenhängen. Sonst müssten ja zwei Personen da sein. Nicht du bist derjenige, der dein Denken oder Nichtdenken wahrnimmt, sondern reines Bewusstsein. Ein kurzer Augenblick des Erwachens.